Konterfei, 2014, Acryl auf Pappel, 42 x 29,7 cm

Konterfei, 2014, Acryl auf Pappel, 42 x 29,7 cm

Vier Texte für den Katalog Maria aus dem Ärmel

Jede Meinung ist auch ein Versteck und jedes Bild verbirgt immer auch etwas. Manche vermuten gar, man male nur deshalb Bilder, um besser verstecken zu können, was man alles mit sich herum trägt. „Larva bedeutet Maske oder Geist. Larvatus, maskiert, eine Persönlichkeit – larvatus prodeo (Descartes): und es bedeutet auch wahnsinnig, ein Fall von dämonischer Besessenheit“, schreibt Norman O. Brown, für den die Wahrheit immer poetisch und niemals wörtlich, sondern immer symbolisch daherkam. Tritt die Wahrheit also stets verschleiert oder mit einer Maske auf?
Stellen wir uns vor, wir wären zu einem illustren Maskenball eingeladen und hätten uns, wie vom Gastgeber gewünscht, eine möglichst originelle Verkleidung auszudenken. Würden wir wohl eingelassen, wenn wir eine Maske unserer selbst trügen? Eine solche Maske wäre ja ein Paradox, denn sie zeigt ja etwas von dem, was sie zu verdecken vorgibt. Sie wäre undurchsichtig und gleichzeitig durchsichtig. Könnten wir uns hinter solch einer Maske wirklich noch verstecken und ganz wir selbst sein? Und ist das gemalte Bild eines Künstlers nicht auch eine Maske, ein Mittel um etwas zu zeigen und zu verbergen, etwas undurchsichtig und gleichzeitig durchsichtig erscheinen zu lassen? Könnte es ein solches Bild überhaupt geben, ein Bild das zeigt was es verbirgt? Würde ein solches Bild verstanden werden? Oder liegt in der äußeren Erscheinung doch mehr Wahrheit als in dem, was unter ihr verborgen bleibt?


1 Norman O. Brown, Love’s Body, München 1977, (91)


Schöne Aussicht, 2014, Acryl auf Tuch auf Karton, 50 x 30 cm

Schöne Aussicht, 2014, Acryl auf Tuch auf Karton, 50 x 30 cm

Es hätte so schön sein können. Die Tannen am Wegesrand, der Blick ins Tal, das Abendlicht. Doch dann das. Spuren reiner Energie. Hellblaue Farbstreifen, die Querschlägern gleich ihren fragilen Kondensstreifen über die Fläche ziehen. Kugelformen, grau oder grün gerändert, mit einem rosarotem Kern.

Die Poetik habe eine Kugelgestalt meint Alexander Kluge. Und die darauf gegründete Kunst sei kein Stil, sondern folgt einer elementaren Voraussetzung der Poetik. Montage, Zerreißung und zugleich Zusammenhang! Und das, was abgebildet wird, ist ja nie dasselbe ist wie das Abgebildete. „Deshalb nicht, weil die Realität selbst Kugelgestalt hat. Das, was wir Aktualität, Gegenwart oder umgangssprachlich als ‚wirklich’ bezeichnen, ist davon nicht einmal ein Abglanz, sondern eine Verkürzung.“1

Zwei Bilder auf einer Leinwand, vielleicht. So als hätte jemand für einen kurzen Moment den Schalter umgelegt, die Frequenz geändert oder den Fokus radikal verschoben. Wir kennen so etwas, aus kurzen, flüchtigen Augenblicken. Wir fragen nach solchen Erlebnissen dann meist ganz ungläubig und leise: War da wirklich was? Nein, da war nichts! Nur eine Illusion, möglicherweise. Das Wetter ist schuld, oder die Müdigkeit. Doch hier, so scheint die Malerei von Maria Bubenik zu belegen, muss etwas gewesen sein, sonst gäbe es nicht diese merkwürdige Vermischung, sonst gäbe es dieses Bild nicht. Möglicherweise war es nur ein Zucken in der Hand der Künstlerin, ein Spasmos, ein kurzer Augenblick der Unkonzentriertheit und schon macht der Pinsel was er will. War da was im Auge, ein wanderndes Staubkorn, ein elektrisches Blitzen? Oder mischen sich auf dieser Leinwand vielleicht romantische Bilderinnerungen mit den Darstellungen aus einem Hochenergie-Teilchenbeschleuniger die weiß machen wollen, wir sähen die Spuren kleinster Atomteilchen? Das alles ist nicht sehr wahrscheinlich. Aber gerade deshalb möglich. Denn wir wissen ja: Je wahrscheinlicher uns etwas vorkommt, desto misstrauischer sollten wir sein.

1 Alexander Kluge, Nichts ist stiller als eine geladene Kanone, Dankesrede zum Heinrich-Heine-Preis 2014, Süddeutsche Zeitung, 15. Dezember 2014, Nr. 228, S. 12


Blitz, 2014, 18 x 24 cm, Acryl auf HDF

Blitz, 2014, 18 x 24 cm, Acryl auf HDF

Da gab es seit kurzem diese merkwürdigen schwarzen Ränder um das täglich kleiner werdende Gesichtsfeld. Sie konnte sich diese mehr oder weniger starken Einschränkungen beim besten Willen nicht erklären. Auch ihr Arzt wusste keinen medizinischen Grund für das Phänomen anzugeben. Er riet deshalb zum Abwarten.

An manchen Tagen schien es ihr so, als sähe sie die Welt nicht direkt durch ihre Augen, sondern als hocke sie als kleine Ausgabe ihrer selbst in einem ihrer eigenen Augen, wie in einer Grotte und blickte vom tiefsten Punkt der Augenhöhle nach draußen auf die Landschaft. Das war keineswegs ein schlechtes Gefühl, denn sich selber beim Sehen zuzusehen und das Sehen als einen ganz und gar körperlichen Akt zu erleben, war, wie sie bald feststellen konnte, schön, anregend und in gewisser Weise befreiend.

So dachte sie auf einmal wieder mit großer Sympathie an all jene, die den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz weiterhin daran festhielten, dass der Akt des Sehens ein aktiver sei und das Auge mit seinen von ihm selbst ausgesandten Sehstrahlen die Wirklichkeit abtaste. So, wie sie es nun erlebte, war sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben des eigenen Gesichtsfeldes voll bewusst und empfand das Sehen als etwas ganz und gar organisches. Ja, sie erlebte sich voll und ganz als ein großes Auge und all das, was man ihr über den unbegrenzten, euklidisch-mathematischen Raum beizu­bringen versucht hatte, war auf einmal vollkommen obsolet.

Beunruhigend war nur, dass die Höhle von dem Rändern des Blickfeldes langsam aber sicher zuzuwachsen schien, so als wollte sie die Schauende am Ende in sich und damit im Dunkeln einschließen. Auch der honigfarbene Spritzer verunsicherte sie. Sie dachte zwar sofort, dass es sich hier um ein männliches Ejakulat handeln müsse, das wie auf einer Glasscheibe, die ihre Augenhöhle offenbar verschloss, seinen Niederschlag gefunden hatte. Doch auch das ergab noch keinen Aufschluss über das was hier geschah.

Sie erinnerte sich an die „Blaue Stute“, einen Roman, den sie als Teenager heimlich gelesen hatte und indem von einem Maler die Rede war, der Augen malen konnte, als seien sie lebendig. Erst auf seinem Sterbebett, also auf den letzte Seiten des Buches, offenbarte der erschöpfte Künstler sein Geheimnis und gestand, dass es sein eigener Samen gewesen sei, den er dem Weiß beigemischt hätte, um den Ausdruck der Augen seiner Pferde auf so unvergleichliche Weise zu steigern.

Sie musste auch wieder an ihr Kunststudium denken und an einen aufdringlichen Kommilitonen, der sie mit Marcel Duchamps kuriosen Versuch, mit seinen im Orgasmus frei werdenden Sekretspritzern etwas Landschaftsähnliches auf das Papier zu bringen, bekannt gemacht hatte. Und hatte sie nicht noch vor kurzem von den kleinen Semen-Paintings Warhols gehört, die ein bekannter Sammler abstoßen wollte, weil ihm klar geworden war, wie sich in diesen Bildern Form und Inhalt zueinander verhielten.

Sie nahm sich vor, das alles möglichst gelassen zur Kenntnis zu nehmen und gleichzeitig aufmerksam und gespannt zu beobachten, ob sich Zentrum und Peripherie nicht vielleicht am Ende pulsierend durchdringen und ob sich in dieser Durchdringung nicht ein ganz neuer, völlig unvordenklicher Blick auf die Welt eröffnet. Vielleicht würden sich die verstörenden Beobachtungen, Fragen und Mutmaßungen mit der fortscheitenden Verdichtung des Gesichtsfeldes aufklären, vielleicht war das, was man unter Perspektive verstehen sollte am Ende sowohl eine räumliche Verengung wie eine Öffnung, ein Art doppelter Durchblick. Sicher schien zu diesem Zeitpunkt nur, dass das Sehen den eigentlichen menschlichen Sinn bezeichnet. Sehen war für sie zu einer Art tasten, einer körperlichen Berühren der Welt geworden. Und sie spürte deutlich: Nur in dieser organischen Form des Sehens kann es gelingen, intensiv am Sein teilzunehmen. Denn wer wie sie Perspektive als Durchschau erlebt hat, dem erscheinen nun sämtliche klassischen Auffassungen von Perspektive mit ihrer Zuspitzung auf einen Fluchtpunkt nur noch fade.


Rückgewinnung, 2014, 40 50 cm, Acryl auf HDF

Rückgewinnung, 2014, 40 50 cm, Acryl auf HDF

Vergleichbar der berühmten Polizei-Notrufzelle TARDIS aus der britischen Science-Fiction-Serie „Dr. Who“ werden manchmal zunächst wenig auffällig anmutende Werke der Kunst zu Zeit-Raum-Maschinen die ihre Betrachter auf mysteriöse Reise schicken und in halsbrecherische Abenteuer verwickeln. „Duktus“ und „Rückgewinnung“ sind hierfür schöne Beispiele. Sie zeigen jeweils einen Bodenschleifer im Schutzanzug mit seiner trivialen Maschine. Doch anders als es der erste Blick vermuten lässt, scheint es auch hier um mehr zu gehen, als um die Darstellung einer alltäglichen Episode.

Es ist nicht mehr als eine Ahnung, die einen zwingt, noch einmal genauer hinzuschauen. Vielleicht, so könnte man in der Revision beispielsweise spekulieren, kommt es ja gar nicht auf den Handwerker und sein Werkzeug an, vielleicht ist das Eigentliche ja gerade das, was abseits, was im Hintergrund, auf dem Boden und im Inneren der Staubfangbeutels passiert und mit malerischen Mitteln auf den Punkt gebracht wurde. Vielleicht ist das Schleifen des Bodens ja nur ein Vorwand, um die schwer zu beschreibenden verschmierten Formen zu produzieren, Formen, die darauf hindeuten, dass sich heute die eigentlich interessanten Vorgänge jenseits des klassischen physikalischen Weltverständnisses ereignen. Fundamentaler als die materielle Welt ist möglicherweise das, was zwischen den Dingen oder abseits der alten Beutungsschwerpunkte passiert und ganz allgemein als Potenzialität begriffen werden muss. Kausalitäten werden in einem derartigen Verständnis natürlich obsolet oder interessieren nur noch am Rande. Es geht um das Ganze und nicht darum, die Dinge zu isolieren und zu separieren. Prozesse und Konstellationen sind das Wesentliche. Die Wirklichkeit muss man sich also amorph und beinahe undarstellbar denken. Denn was eben noch fest und klar erschien befindet sich plötzlich in einem kreativen Beziehungschaos. Nicht in einem deterministischen Chaos, sondern in einem kohärenten Quantenchaos. Die Welt ist also nicht allein aus Materie gemacht, sie besteht vor allem aus Beziehungsstrukturen und man kann sich diese Welt vielleicht als eine einzige dicke Suppe vorstellen, in der alles miteinander verbunden ist. So entsteht ein verschmiertes Bild, auf dem wir mehr erahnen als erkennen können. Dass wir uns in Worten und Bildern überhaupt darüber austauschen, liegt an unserer Fähigkeit, weit mehr zu erleben, als wir zu begreifen in der Lage sind.

Duktus, 2014, 40 x 30 cm, Acryl auf HDF

Duktus, 2014, 40 x 30 cm, Acryl auf HDF